Lesebühne, Prosa

Ich hier, du dort – Skizzen aus Leipzig-Leutzsch

Im Haus riecht es, als würde jemand einen Kuchen backen. Gestern bin ich wieder einmal irgendwo angekommen, in Lindenau bzw. Leutzsch oder irgendwo dazwischen. Nach fast zwei Jahren Wanderschaft bin ich zurück in Leipzig, wo alles seinen Anfang nahm, die Wanderschaft, die Wanderschaft, ja, die Wanderschaft. Warum ich damals eigentlich losgegangen bin, weiß ich schon nicht mehr. Sicher ist nur, dass ich nicht lange bleiben werde. Etwas über einen Monat. Nicht mehr. Hier nicht und auch nirgendwo sonst. Dann geht es in die nächste Stadt. Heute hier, morgen dort … ein Lied, das zu singen, man uns früher in der Schule gezwungen hat, warum auch immer, meldet sich plötzlich in meinem Gedächtnis zurück und leiert. Unter meiner Wohnung befindet sich ein Hipstercafé, dessen Name sowas von auf der Hand liegt, dass man ihn sofort wieder vergessen muss. Café Leutzsch. Gegenüber, in einem Gründerzeitbau mit geschwärzter Ziegelfassade, befindet sich im Erdgeschoss ein Hare Krishna Tempel. Darüber im ersten Stock sieht aller paar Minuten ein Mann stumpfsinnig auf die Straße hinab. Er scheint das den ganzen Tag zu machen. So oft wie ich ihn dort am Fenster sehe, ist es unwahrscheinlich, dass er tagsüber das Haus verlässt. Lebt er vielleicht mit seinem Zwillingsbruder zusammen in dieser Wohnung, mit dem er sich mit dem Aus-dem-Fenster-starren abwechselt, während der andere Einkaufen geht, Wäsche wäscht und die Betten macht?

Ich habe meine schmutzige Wäsche in meinen Rucksack gepackt und besteige mein Fahrrad. Ich will zum Waschsalon. Ein Mann mit schlohweißem Haar ruft mir hinterher: „Junger Mann, junger Mann, bitte helfen Sie mir.“
Ich halte an und stelle mich auf Erste Hilfe Maßnahmen ein. Seine Fahne kann man bestimmt bis ins Leipziger Zentrum riechen. „Wie kann ich Ihnen helfen? Brauchen Sie einen Krankenwagen?“, frage ich.
„Nein. Sie müssen mir mit einem Euro helfen. Sie müssen!“, sagt der Mann eindringlich und legt seine Hand auf meinen Unterarm, um kräftig zuzudrücken. „Tut mir leid“, erwidere ich, „ich brauche mein Kleingeld für den Waschsalon.“
„Das ist doch kein Problem. Wenn Sie nur einen Schein haben, ich kann wechseln“, bekomme ich zur Antwort.
„Ich habe nur einen Hunderter“, sage ich.
„Überhaupt kein Problem, überhaupt kein Problem, junger Mann.“ Er holt einen Beutel aus seinem Rucksack, in dem es von Kleingeld nur so wimmelt. Ich reiche ihm den Schein. Er beginnt das Wechselgeld zu zählen: „So und da wären das 99 Ein-Euro-Stücke für Sie zurück.“ Ich lade sämtliche Hosen- und Manteltaschen damit voll. Sie sind beinahe am Überquellen. Er schüttelt mir die Hand, als hätten wir ein Geschäft gemacht. „Ich bedanke mich!“ Ich steige wieder aufs Rad und fahre davon. An der nächsten Ecke steht schon der nächste und hält seine Fahne in den Wind. „Junger Mann, bitte, Sie müssen mir helfen! Sie müssen!“ Ich greife in meine vor Münzen überquellenden Manteltaschen und werfe einen Euro auf den Gehweg. Ich trete in die Pedale. Der nächste Waschsalon befindet sich auf der Georg-Schwarz-Straße, nicht weit vom Rathaus Leutzsch entfernt. Es ist der einzige weit und breit.

Ich bin lange nicht mehr in einem Waschsalon gewesen. Ein weiteres Klischee von einem Trinker (warum wohnen eigentlich keine Limonadentrinker in diesem Viertel überlege ich) erklärt mir, wie ich die Waschmaschine bedienen muss. Er hat eine aufgequollene rote Nase und ebenfalls eine, wie könnte es anders sein, Bis-in-die-Leipziger-city-Fahne. In einer Rezension zu meinem neuen Roman schrieb letztens jemand: „Es ist nicht ganz klar, ob der Autor die Klischees oder die Klischees ihn im Griff haben.“ Ich habe beschlossen, das als Kompliment zu verstehen. Immerhin scheint die Welt zu fast 100 Prozent aus Klischees zu bestehen, zumindest in Leutzsch, und ich bin immer ein Freund des Realismus gewesen. Ich werfe die Wäsche in die Trommel (13 Mal durchnummerierte Unterwäsche, die Nummer 14 trage ich am Leib, 1 Pullover, den zweiten trage ich am Leib, eine Hose, die zweite trage ich am Leib und einen Teddy mit fehlendem linkem Ohr (Lochfraß Kleidermotte)).

Ich stelle die Gradzahl ein: 40. Als sich die Trommel zu drehen beginnt und die Waschzeit auf dem Display erscheint, will ich auf meinem Handy den Wecker einstellen. Doch da ich es nicht finden kann, muss ich sofort an mein im Zug verlorenes Notizbuch, und an einen Artikel über Altersdemenz denken, den ich letztens irgendwo bei irgendjemand gelesen habe. Leider kann ich mich nicht mehr an den Inhalt erinnern. Ich sehe, wie der Trinker, der mir die Waschmaschine erklärt hat, gerade eilig den Waschsalon verlässt und irgendwas in seiner Jackentasche verschwinden lässt. Mein Handy? Hatte mir dieser Trinker etwa gerade mein Handy geklaut, um es gegen ein Fünfzigliterfass Wilthener Goldkrone einzutauschen?

Ich folge ihm eilig und sehe, wie er in einer Bäckerei auf der anderen Straßenseite verschwindet. Ich beschließe, zu warten, bis er wieder herauskommt. Vielleicht kauft er sich ein Brötchen oder einen Kaffee to go. Doch er kommt nicht wieder. Das ist doch nicht etwa einer von den Bäckern, wo es auch Bier zu kaufen gibt?, denke ich. Hatte sich der Trinker etwa da drin mit einer Pulle an einen Spielautomaten gesetzt und zockte jetzt? Nach zehn Minuten wird es mir zu bunt. Ich gehe hinein und sehe ihn hinter der Theke stehen. Er arbeitet hier. Auch das noch. Ich und meine Vorurteile. Ich bin wütend auf mich selbst. „Der da hat mein Handy geklaut“, will ich sagen. Zu wem eigentlich? Es ist niemand da, außer mir und dem Verkäufer mit der Schnapsnase.
„Na, die Waschmaschine läuft? Da wird sich erstmal einen Kaffee in den Kopp gestellt, was?“, fragt er mich.
„Sie haben nicht zufällig mein Huwai-Handy gesehen?“
Er blickt mich an, als hätte ich gerade ein Pfund vegane Jagdwurst bestellt.
„Hier?“, fragt er mich.
„Wo denn sonst?“, sage ich. Mir wird schwarz vor Augen und ich muss mich irgendwo festhalten, um nicht umzukippen.
Der Mann reicht mir seinen Flachmann über die Ladentheke. „Einen Schluck auf den Specht?“
„Sehe ich vielleicht wie ein Schluckspecht aus? Oder wie ein Junkie?“
„Hm, weiß nicht. Aber es scheint, als seien Sie absolut abhängig von Ihrem Handy-Gerät.“
Er versucht mich zu beruhigen. „Vielleicht haben Sie es zu Hause vergessen?“
„Ich vergesse nie etwas“, sage ich.
„Oder es hat Ihnen jemand geklaut.“
„So weit war ich auch schon“, sage ich.
Ich sehe ihn scharf an, mit einem fragenden Blick, der: „Z.B. Sie heißen könnte“.
„Also ich“, sagt er, „ich würde niemals ein Huwai klauen. Die bringen doch nichts auf dem Markt, die Dinger.“
„Woher wissen Sie eigentlich, dass ich ein Huwai habe?“
„Weil Sie es mir gerade gesagt haben. Kann es sein, dass Sie langsam alt werden?“
„Ich?“

Ich beeile mich wieder zurück in den Waschsalon zu gehen.
Ich setze mich neben die Maschine und starre auf die Trommel. Und da sehe ich mein Huwai, wie es in schönster Regelmäßigkeit in der Trommel mit der Wäsche mitrotiert und manchmal ganz sanft gegen die Glasscheibe klopft, als wolle es sagen: Ich bin hier, du bist dort.

(Premiere am 09.02.18 bei der Lesebühne Sax Royal in Dresden)

2 Gedanken zu „Ich hier, du dort – Skizzen aus Leipzig-Leutzsch“

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